„Ich gebe euch in diesem Punkt nicht meine eigene Meinung, sondern die der Väter. Josephs Grund war derselbe wie der des Petrus, der sagte: „Geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr“, und der des Hauptmanns, der ausrief: „Ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach.“ Joseph betrachtete sich selbst als Sünder und als unwürdig, jemanden zu beherbergen, in dem er eine übermenschliche Würde erblickte. Mit Ehrfurcht sah er in der Jungfrau-Mutter ein sicheres Zeichen der göttlichen Gegenwart, und da er das Geheimnis nicht ergründen konnte, wollte er sie wegschicken. Petrus war von Ehrfurcht vor der Größe der Macht Christi ergriffen, der Zenturio von der Majestät seiner Gegenwart, und Joseph fürchtete sich natürlich vor der Neuheit und Herrlichkeit des Wunders und der Tiefe seines Geheimnisses. Wir brauchen uns nicht zu wundern, dass er sich der Gemeinschaft mit einer solchen Jungfrau für unwürdig hielt, wenn wir hören, wie die hl. Elisabeth mit Furcht und Zittern ausruft: „Woher kommt mir das, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“
Hl. Bernhard von Clairvaux, De Laudibus Virginis Matris, Homilia 2 super missus est
Diese Auslegung der entsprechenden Stelle im Matthäusevangelium (1,18–24) hat sich in der Theologie weitgehend durchgesetzt. Dennoch ist sie im Bewusstsein der Gläubigen kaum verankert. Im Gegenteil denken bis heute viele, der hl. Joseph habe Maria des Ehebruchs verdächtigt und sich deswegen von ihr trennen wollen. Wenige wissen, dass diese „Verdachtstheorie“ schon zur Zeit der Kirchenväter von den Meisten verworfen und durch die „Ehrfurchtstheorie“ ersetzt worden ist, die besagt, dass der hl. Joseph von der übernatürlichen Empfängnis Mariens sehr wohl wusste oder zumindest ahnte, und sich gerade deswegen von ihr trennen wollte – weil ihn Furcht und Zittern angesichts eines solchen Wunders überkamen, dessen er, demütig wie er war, sich nicht für würdig erachtete.
Wir sind nicht nur überzeugt, dass sämtliche denkbaren Argumente für diese Ehrfurchtstheorie sprechen, sondern auch, dass die Verdachtstheorie auf einer Reihe von Irrtümern und Widersprüchen beruht und daher nurmehr von historischem Interesse sein kann.
Doch vergegenwärtigen wir uns zunächst den Bericht im Matthäusevangelium (1,18–24) im Detail, bevor wir dessen Deutung diskutieren.
„Mit der Geburt Jesu Christi aber verhielt es sich so: Als seine Mutter Maria mit Joseph verlobt war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie empfangen hatte vom Heiligen Geiste. Joseph aber, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, gedachte sie heimlich zu entlassen. Während er mit diesem Gedanken umging, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Joseph, Sohn Davids, fürchte Dich nicht, Maria, Deine Frau, zu Dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist vom Heiligen Geiste. Sie wird einen Sohn gebären; dem sollst Du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden. Dies alles ist geschehen, damit in Erfüllung gehe, was vom Herrn durch den Propheten gesagt worden: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Emmanuel geben, das heißt: Gott mit uns (Jes 7,14).“ Joseph stand vom Schlafe auf und tat, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.“
Nun hat es im Laufe der Kirchengeschichte grob gesprochen drei Interpretationsansätze gegeben, neben der Verdachts- und Ehrfurchtstheorie gab es auch noch die sog. Verunsicherungstheorie. Gehen wir sie der Reihe nach durch!
- 1. Die Verdachtstheorie
Diese Theorie besagt, dass der hl. Joseph Maria des Ehebruchs verdächtigt hätte, als er sie schwanger sah. Denn er selbst hatte nicht mit ihr verkehrt und hätte so zu keinem anderen Schluss gelangen können, als dass sie mit einem anderen Mann verkehrt hätte. Weil er aber gerecht war, wollte er sie nicht der öffentlichen Demütigung preisgeben und sie stattdessen heimlich entlassen.
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum diese Theorie abzulehnen ist. Am Offensichtlichsten ist ein logischer Widerspruch: Denn das Evangelium gibt als Begründung für Josephs Vorsatz, Maria heimlich zu entlassen, ja seine Gerechtigkeit an. Was aber war gerecht daran, eine Ehebrecherin heimlich zu entlassen? Gerecht war im biblischen Sprachgebrauch, wer nach dem Gesetz des Herrn handelte. Das alttestamentliche Gesetz besagte allerdings, dass eine Ehebrecherin öffentlich anzuzeigen war.
In diesem Sinne schreibt der hl. Hieronymus in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium: „Das Gesetz schreibt vor, dass nicht nur diejenigen, die ein Verbrechen begehen, sondern auch Mitwisser des Verbrechens sich versündigen (Lev 5); wie aber soll Joseph, wenn er das Verbrechen seiner Frau verheimlichen will, als gerecht benannt werden?“
Auch andere Kirchenväter wie der hl. Basilius der Große oder der hl. Ephräm der Syrer haben sich in ähnlicher Weise geäußert. Eigentlich ist dem nichts hinzuzufügen. Wenn der hl. Joseph als gerecht im Sinne des alttestamentlichen Gesetzes bezeichnet wird, dann ist dies nicht mit seinem Versuch vereinbar, einen Ehebruch zu verheimlichen. Und noch weniger kann dieser Verheimlichungsversuch aus seiner Gerechtigkeit ausdrücklich „folgen“ bzw. durch diese „begründet“ werden.
- 2. Die Verunsicherungstheorie
Diese Theorie besagt, dass der hl. Joseph zwar sicher war, dass Maria, deren unendliche Heiligkeit und Reinheit er ja kannte, keinen Ehebruch begangen haben konnte, aber dennoch nicht so recht wusste, welchen Reim er sich nun auf die Schwangerschaft Mariens machen sollte. Mit einem modernen Begriff gesprochen war es wie eine „kognitive Dissonanz“. Er konnte Beides – die Überzeugung von Mariens Unschuld einerseits und das Fehlen einer alternativen Erklärung andererseits – einfach nicht miteinander in Einklang bringen. Demzufolge wollte er sich eines Urteils enthalten und zog für sich die Konsequenz, indem er sich aus der ihn überfordernden Situation still zurückziehen wollte.
Diese Theorie ist eigentlich sehr schwach, denn sie blendet zentrale Elemente aus: Wenn der hl. Joseph nur verunsichert war, warum ist dann die Rede davon, dass er sich „fürchtete“? Das passt nicht zusammen.
Dazu kommt außerdem ein weiterer Problempunkt, den die zweite mit der ersten Theorie teilt. Denn in beiden Theorien wird vorausgesetzt, dass Maria ihrem Bräutigam gegenüber offenbar nichts von der Verkündigung des Engels erzählt und ihn so – absichtlich oder unabsichtlich – im Ungewissen gelassen hat. Dies ist jedoch schwer vorstellbar. Hätte Maria ein Ereignis von solch einschneidender Bedeutung ihrem Bräutigam gegenüber verheimlichen sollen? Ist es nicht gerade das Zeichen eines frischverlobten Paares, alle Erlebnisse, Gedanken und Gefühle miteinander zu teilen?
Doch selbst wenn dies so gewesen wäre, hätte Joseph auch auf anderem Wege davon erfahren können. Denn kurz nach der Verkündigung war Maria ja zu ihrer Cousine Elisabeth aufgebrochen, die, vom Heiligen Geist erleuchtet, den übernatürlichen Ursprung von Mariens Schwangerschaft laut proklamierte:
„Und es geschah, als Elisabeth Marias Gruß hörte, hüpfte das Kind in ihrem Schoße, und Elisabeth wurde vom Heiligen Geiste erfüllt. Sie rief mit lauter Stimme: Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes! Woher wird mir die Ehre zuteil, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ (Lk 1, 41–42)
Falls Maria zu diesem Zeitpunkt Joseph noch nicht von der Verkündigung erzählt haben sollte, dann hätten ihre Verwandten ihr sicher dazu geraten, dies baldmöglichst nachzuholen. Es wäre doch merkwürdig, wenn ihre Cousine und deren Ehemann etwas über Maria wissen, was sie vor ihrem eigenen Bräutigam verheimlichen sollte.
Im Übrigen ist es durchaus möglich, dass Joseph sogar persönlich zugegen war, als Elisabeth die eben zitierten Worte sprach; er wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber es hat einige Wahrscheinlichkeit für sich, dass er Maria auf dem ca. 140 km langen, beschwerlichen und gefährlichen Weg, der von Nazareth in das Bergland von Judäa führte, begleitet hat; vielleicht ist er danach wieder abgereist, um Maria nach einigen Monaten wieder abzuholen. Auch wenn dieses Detail Spekulation bleiben muss: Nachdem Mariens übernatürliche Schwangerschaft bei Zacharias und Elisabeth solch ein Aufhebens verursacht hatte, ist es schwer vorstellbar, dass der hl. Joseph davon nicht auf dem ein oder anderen Weg “Wind bekommen” hätte.
Und selbst wenn auch dies nicht der Fall gewesen wäre, dann bleibt immer noch die Tatsache, dass die Geburt des Messias aus einer Jungfrau sicheres Wissen der Juden war! So war es ja bei Jesajas geweissagt. Gerade in dieser Zeit harrten die Frommen sehnsüchtig des Messias. Als Thronerbe war Joseph besonders geneigt, aufmerksam zu sein gegenüber allen Anzeichen vom Kommen des Messias, mit dem die Wiederherstellung des Königreichs verbunden war. Dazu kamen andere, konkrete Vorzeichen wie die wundersame Fügung der Geburt des hl. Johannes des Täufers aus Elisabeth, die bereits in hohem Alter war. Und weil er der größte Heilige nach der Muttergottes war, müssen wir davon ausgehen, dass der hl. Joseph über eine ausgeprägte übernatürliche Intuition verfügte; das heißt, selbst wenn er durch keine direkte Quelle davon erfahren hat, selbst wenn er es sich nicht aus den bekannten Stellen der Heiligen Schrift und den Ereignissen seiner Umgebung erschließen konnte, dann muss er schlichtweg gespürt haben, dass Gott mächtig an Maria gewirkt hatte, dass das Kommen des Messias nahte.
Lassen wir den hl. Ephräm zusammenfassen (vgl. Ephraemi Evangelii Concordia):
„Alle Anzeichen waren dazu angetan, dass Joseph erkannte, dass dies durch Gott getan war. Niemals hatte er an Maria etwas Unreines wahrgenommen, und es ist nicht möglich, dass er nicht glaubte, was durch viele Zeugnisse bestätigt wurde, durch die Verstummung des Zacharias, durch die Schwangerschaft Elisabeths, durch die Verkündigung des Engels, durch das Frohlocken des Johannes und die Prophetie seiner Eltern; all dies nämlich, zusammen mit vielen anderen Dingen, forderte laut, dass eine Jungfrau empfangen hatte.“
Wenn Joseph aber wusste oder ahnte, dass Maria vom Heiligen Geist empfangen hatte, warum wollte er sie dann entlassen, und noch dazu heimlich? Damit kommen wir zur dritten und einzig überzeugenden Theorie.
- 3. Ehrfurchtstheorie
Die beste Beschreibung dieser Theorie liefert uns der hl. Bernhard mit den eingangs bereits zitierten Worten. Der hl. Joseph war unendlich demütig. Er erachtete sich nicht für würdig, mit der Mutter des Messias, ja mit dem Messias selbst, zusammenzuleben. Dies ist die natürlichste Reaktion, denn die Gegenwart Gottes verursacht im Alten Testament immer zunächst Furcht; nur wenige sind imstande, Gott zu schauen. Als Gott dem Moses im brennenden Dornbusch erscheint, verbirgt dieser sein Angesicht. Gottes Gegenwart ist ehrfurchtgebietend.
Der springende Punkt des biblischen Texts ist, dass der hl. Joseph Maria heimlich entlassen wollte. Wenn er dies öffentlich getan hätte, dann hätte er in der Synagoge begründen müssen, dass Maria die Mutter des Messias war. Das hätte aber das Risiko geborgen, dass man Maria nicht glauben und sie stattdessen der Gotteslästerung anklagen würde – und dass man sie dann außerdem noch des Ehebruchs verdächtigte. So wäre Maria aller Wahrscheinlichkeit nach gesteinigt worden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Synagoge von Nazareth dreißig Jahre später versuchte, Jesus wegen Gotteslästerung zu töten, obwohl er der Messias war.
Dies konnte Joseph nicht riskieren, weil er gerecht war. Denn Maria wäre ja unschuldigerweise angeklagt worden, und dies wäre nicht gerecht gewesen. Diese Ungerechtigkeit wollte Joseph umgehen, indem er plante, Maria heimlich zu entlassen. Wie aber hätte eine solche heimliche Entlassung ausgesehen? Joseph hätte sich vermutlich selbst zurückgezogen und die Stadt verlassen. Denn dann hätte er selbst die Schuld auf sich genommen, seine Frau im Stich gelassen zu haben – zumindest in den Augen der Menschen. Joseph sah also keinen anderen Ausweg aus der Situation, als selbst in Unehre zu verfallen. Nur so konnte er ausschließen, dass Maria ungerechterweise in Gefahr kam, Maria, die er liebte und von deren Heiligkeit, Reinheit und Unschuld er überzeugt war wie von kaum etwas auf der Welt. Dies ist ein Zeichen echter, wahrer Liebe, wenn man lieber selbst einen Nachteil annimmt, als dass der Geliebten etwas zustößt.
Nun sind wir auch erst in der Lage, die Worte des Engels zu verstehen, die dieser an Joseph richtet! Hören wir sie noch einmal im Detail: „Joseph, Sohn Davids, fürchte Dich nicht, Maria, Deine Frau, zu Dir zu nehmen, denn was sie empfangen hat, das ist vom Heiligen Geiste.“
An erster Stelle steht der Aufruf, dass Joseph sich nicht fürchten soll. Dies ergibt erst jetzt Sinn, wenn wir wissen, dass Joseph in Ehrfurcht erstarrt war angesichts von Gottes Gegenwart, die an Maria offenbar geworden war! In der Tat gibt es unzählige Stellen in der Hl. Schrift, an denen Gott oder seine Engel den Menschen erscheinen, und ihnen meist als erstes sagen, dass sie sich nicht fürchten sollen! Ja, Gott ist gegenwärtig in Maria, Joseph, aber fürchte Dich nicht!
Dass das Kind vom Heiligen Geist stammt oder stammen musste, das wusste bzw. ahnte der hl. Joseph ja schon. Insofern bestätigt der Engel nur seine Ahnung. Es handelt sich nicht um eine Erklärung. Der Engel will Joseph damit vielmehr zeigen, dass er dessen Gedanken bereits kennt, dass er über die Situation mit all ihren relevanten Faktoren im Bilde ist. Indem der Engel das ausspricht, was Joseph schon wusste, aber sich vermutlich kaum getraute, sich selbst zuzugestehen, weil es einfach so groß, so herrlich und so wunderbar war, weist er sich als wahren Boten Gottes aus, der allein allwissend ist und selbst unsere geheimsten Gedanken kennt. Indem der Engel Josephs Gedanken und Ahnungen benennt, gewinnt er Josephs Vertrauen.
Wir können das mit einer späteren Stelle im Matthäusevangelium (28,5) gut vergleichen. Als die Frauen am Grab des Auferstandenen vergeblich nach Christi Leichnam suchen, erscheint ihnen ein Engel und spricht: „Fürchtet Euch nicht; denn ich weiß, dass Ihr Jesus sucht, der gekreuzigt wurde…“ Die Frauen brauchten ja keinen Engel, um erst erklärt zu bekommen, dass sie Jesus suchen. Aber es beruhigte sie, zu wissen, dass der Engel ihre Gedanken kannte. Nur so konnten sie sicher sein, dass es ein Engel Gottes war, dem sie vertrauen konnten.
So wiederholt auch der Engel Joseph gegenüber nur etwas, was Joseph insgeheim bereits wusste, um sein Vertrauen zu gewinnen. Dieses Vertrauen brauchte er, denn er ist von Gott gesandt, um Joseph Gottes Willen kundzutun: Joseph soll Maria zu sich nehmen, „obwohl“ diese doch Mutter des Messias ist. Das überstieg den Verstand des hl. Joseph, weil in den Messias-Verheißungen nur die Rede davon war, dass der Messias von einer Jungfrau geboren würde, nicht aber, dass er einen Ziehvater haben sollte. Welches Staunen, welch stiller Ernst muss den hl. Joseph durchdrungen haben über dieses tiefe Geheimnis, noch dazu, dass er selbst daran Anteil haben sollte!
Bleibt als letzter denkbarer Einwand, dass das, was der Engel als Bestätigung von Josephs Gedanken ausspricht, mit einem „denn“ eingeleitet wird. „Fürchte Dich nicht, denn…“ Zugegeben, das ist der einzige Grund, warum man die Position derer ein Stück weit verstehen kann, die sich für die Verdachtstheorie ausgesprochen haben. Aber eben nur ein Stück weit. Denn einerseits müssen wir die Passage im Ganzen betrachten, und die Verdachtstheorie ist, wie wir gezeigt haben, widersprüchlich. Andererseits wird das Wörtchen „denn“ im Matthäusevangelium sehr oft, ja geradezu inflationär gebraucht, und zwar oft ohne einen kausalen (d.h. begründenden) Sinn, so in Mt 5,36; 9,24; 18,7; 24,6; 25,29; 26,28; 28,5. Somit lässt sich dieser Einwand entkräften.
Nachdem wir also die Ehrfurchtstheorie als allein überzeugende Deutung erwiesen haben, möchten wir abschließend noch ein gängiges Missverständnis korrigieren, das in gleicher Weise auch in der sog. „Altersfrage“ des hl. Joseph immer wieder aufkommt. Es gibt nämlich viele, auch in jüngster Zeit, die sagen, dass alle genannten Theorien gleichermaßen gültig wären, weil das kirchliche Lehramt sich hierzu nicht ausdrücklich positioniert habe.
Es offenbart jedoch ein Missverständnis über die Funktionsweise des katholischen Glaubens, wenn man meinen würde, dass nur das, was dogmatisch letztgültig definiert ist, sicher ist bzw. dass alles, was nicht dogmatisch definiert ist, schlichtweg zur Disposition stünde. Eine solche Sicht steht sogar der Häresie des Fideismus nahe, die leugnet, dass die menschliche Vernunft zu sicheren Einsichten über Gott und die göttlichen Dinge gelangen kann. Die menschliche Vernunft ist nämlich, sofern sie sich von Gott erleuchten lässt, durchaus dazu in der Lage, die Existenz Gottes zu erkennen und aufgrund dessen, was Gott uns offenbart hat, sichere Schlussfolgerungen auch in theologischen Fragen zu ziehen. Natürlich kann man auch solche Schlussfolgerungen mit Argumenten bestreiten, aber eben nur, wenn es dazu gute Argumente gibt. Es stimmt, dass eine solche Schlussfolgerung nie den absoluten Geltungsgrad einer geoffenbarten Glaubenswahrheit hat, die jeder Katholik verpflichtet ist, zu glauben. Es stimmt jedoch nicht, dass man in Fällen, wo etwas nicht als offizielle Glaubenswahrheit definiert ist, deswegen jeder beliebigen Meinung sein kann. Manche Meinungen sind besser begründet als andere, und manche Meinungen lassen sich gar nicht überzeugend begründen.
Um wieder auf die Auslegung des Matthäusevangeliums zurückzukommen: Natürlich kann man auf einer theologischen Ebene den hier vorgebrachten Argumenten, die die Argumente vieler Heiliger und Kirchenväter sind, widersprechen. Doch dazu braucht es sehr gute Gegengründe, und soweit wir sehen, liegen solche Gegenargumente nicht wirklich vor. Anders gesagt: Auch wenn die Kirche kein Dogma bzgl. der Ehrfurchtstheorie verkündet hat, so dürfen wir diese als mit hoher Sicherheit zutreffende Deutung ansehen, der zu widersprechen schlicht unvernünftig erscheint, auch wenn das theoretisch möglich wäre.
Der hl. Joseph hatte dank seiner großen Heiligkeit ein ausgeprägtes Gespür für das Handeln Gottes in seinem Leben. Er wusste oder ahnte, dass die wundervolle Frau, mit der er sich verlobt hatte, dabei war, Mutter des Messias zu werden. Gott hatte ihn dazu ausersehen, Bräutigam der Muttergottes und rechtmäßiger Vater des Gottessohnes zu sein, auch wenn der hl. Joseph dies zunächst kaum glauben konnte. Es ist gar nicht anders vorstellbar, als dass der hl. Joseph, das Muster und Vorbild der Demut, vor solch einer unaussprechlichen Würde zunächst zurückschreckte, ähnlich wie Petrus, der zu Jesus sagte: „Geh weg von mir, denn ich bin ein armer Sünder!“ Erst als der Engel es ihm ausdrücklich befahl, konnte der hl. Joseph ruhigen Gewissens Maria zu seiner Frau nehmen, weil er nun den Willen Gottes sicher kannte und seinen menschlichen Willen mit dem göttlichen in Demut und Gehorsam vereinigte.