Josephs Himmelfahrt?

Am 19. März 1622 feierte die Kirche erstmals weltweit das Fest des hl. Joseph, das Papst Gregor XV. ein Jahr zuvor für die ganze Kirche verbindlich angeordnet hatte. Zu diesem hohen Anlass hielt der hl. Franz von Sales bei den Heimsuchungsschwestern in Annecy eine fulminante Predigt, die in nichts weniger als der „Himmelfahrt Josephs“ gipfelte.

„Wenn es wahr ist, wie wir zu glauben haben, dass unsere Körper kraft des Allerheiligsten Sakraments [des Altares], das wir empfangen, am Tag des Gerichts auferstehen werden, wie können wir dann zweifeln, dass unser Herr bewirkt hat, dass gemeinsam mit Ihm der glorreiche hl. Joseph mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, der die Ehre und die Gnade hatte, Ihn so oft in seinen gesegneten Armen zu tragen, woran unser Herr so viel Freude hatte?“

Bekanntlich lehrt die Kirche nur bzgl. einer einzigen Person, dass sie mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde: der allerseligsten Gottesmutter. Wenige wissen hingegen, dass die Vorstellung von einer „Himmelfahrt Josephs“ eine Meinung ist, die nicht nur vom hl. Franz von Sales, jenem großen Josephsverehrer, sondern noch von mehreren großen Heiligen und berühmten Gelehrten vertreten wurde, darunter der hl. Bernhardin von Siena, der selige Bernhardin de Bustis, Jean Gerson und der hl. Leonhard von Port Maurice. Und wenige dürften wissen, dass diese Meinung sogar eine päpstliche Bestätigung erhielt, weil kein anderer als Papst Johannes XXIII. die „Himmelfahrt Josephs“ in einer am 26. Mai 1960 gehaltenen Predigt ausdrücklich als fromme Meinung bezeichnete, die man mit gutem Recht vertreten könne.

Es ist jedoch nicht nur diese relativ lange Reihe großer Namen, die „Josephs Himmelfahrt“ plausibel erscheinen lässt. Wer sich länger in das Geheimnis vertieft hat, das den hl. Joseph umgibt, der mag in dieser frommen Meinung sogar eine relativ logische Folge aus all dem sehen, was wir mittlerweile über den hl. Joseph wissen.

Blicken wir zunächst vergleichend auf die Bulle “Munificentissimus Deus”, mit der Papst Pius XII. im Jahr 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündet hat. Aus der Vielzahl der Argumente, auf die sich dieses Dogma stützt, greifen wir zwei heraus, die auch für die Frage der „Himmelfahrt Josephs“ von Interesse sein können.

Das eine betrifft die Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariens, das andere ihre Gottesmutterschaft. Kurz und vereinfacht gesagt lautet die Lehre der Kirche, dass jener Leib, der von jedem Makel der Erbsünde unversehrt war, ja aus dem Gott geboren wurde, nicht der Verwesung anheim fallen konnte. So wie Maria und Jesus auf Erden leiblich verbunden waren, und zwar auch nach der Geburt Jesu – caro Jesu caro Mariae, „das Fleisch Jesu war das Fleisch Mariens“, sagt die Tradition – , so ist es auch angemessen, dass Maria mit Seele und Leib die himmlische Gemeinschaft mit Gott genießt.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die fromme Meinung von der leiblichen Aufnahme des hl. Joseph in den Himmel Einiges an Plausibilität. Denn in beiderlei Hinsicht reichte der hl. Joseph so nah wie kein anderer an die Heiligkeit und die Vorzüge der Muttergottes heran.

Zwar war der hl. Joseph nicht wie die Muttergottes unbefleckt empfangen. Doch viele Heilige lehrten, dass er noch vor seiner Geburt durch ein besonderes Gnadenprivileg vom Makel der Erbsünde befreit wurde bzw. eine besondere Heiligung erfahren hat. Konsens besteht darin, dass der hl. Joseph nie auch nur eine einzige Sünde beging.

Der hl. Joseph war, nach Maria, der einzige Heilige, der aktiv am Geheimnis der Menschwerdung teilhatte. Er hat den Sohn Gottes in seinen Armen getragen und im Heiligen Haus in Nazareth auf engstem Raum mit ihm während drei Jahrzehnten intim zusammengelebt.

Soweit zu den Vergleichspunkten, die darauf hindeuten, dass nicht nur Jesus und Maria, sondern die ganze Heilige Familie, Jesus Maria und Joseph, im Himmel mit Seele und Leib vereint sind. Die Hl. Familie wird oft als „irdische Dreifaltigkeit“ bezeichnet, in der sich das innere Leben des Dreifaltigen Gottes spiegelte. Umso naheliegender scheint es, dass die „irdische Dreifaltigkeit“ auch im Himmel „in sich“ vollendet ist und in dieser vollendeten Gesamtheit am Leben der göttlichen Dreifaltigkeit teilhat.

Ein wesentlicher Unterschied würde jedoch in jedem Fall die Art und Weise bzw. den Hergang der Aufnahme Josephs in den Himmel betreffen.

Denn die Muttergottes ist unmittelbar nach ihrem Entschlafen in den Himmel aufgenommen worden. Die dogmatische Definition von 1950 vermeidet zwar bewusst das Wort „Tod“ bzw. umschreibt den Tod mit den Worten „nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufs“, weil es unterschiedliche Meinungen unter den Theologen dazu gab und gibt, ob Maria erst gestorben und dann auferstanden ist oder in einer Art Entrückung direkt in den Himmel aufgenommen wurde. Diese Frage wurde von Papst Pius XII. bewusst offengehalten. Doch auch im (wahrscheinlicheren) Fall, dass Maria verstorben ist, ist davon auszugehen, dass sich die Seele und der Leib Mariens nur für einen kurzen Moment voneinander trennten, bevor sie sich wieder miteinander vereinigten und die Muttergottes dann mit Seele und Leib glorreich in den Himmel aufgenommen worden ist.

So kann es sich beim hl. Joseph nicht verhalten haben. Er ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch vor Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu verstorben. Bis zum Opfertod Jesu am Kreuz hat sein Leib also mindestens drei Jahre bereits im Grab gelegen. Während dieser Zeit ging seine Seele in „Abrahams Schoß“, den „Limbus patrum“ ein, wo er gemeinsam mit den Gerechten des Alten Bundes die Auferstehung erwartete.

In diesem Zusammenhang müssen wir nun eine Schriftstelle bedenken, nach welcher einigen dieser Gerechten des Alten Bundes das Privileg zuteilwurde, gemeinsam mit Jesus bereits am Ostertag leiblich aufzuerstehen:

„Jesus schrie nochmals mit lauter Stimme und gab seinen Geist auf. Und siehe, der Vorhang des Tempels riss von oben bis unten entzwei, die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich; die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt, gingen nach seiner Auferstehung aus den Gräbern, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen.“

(Mt 27,50–53)

Mit den „Heiligen“ sind die Gerechten des Alten Bundes gemeint. Nach seinem Tod stieg Christus in den Limbus, um den Vätern das Evangelium und ihre bevorstehende Auferstehung zu verkünden. Nachdem Christus am dritten Tag auferstanden war, sind einige der Gerechten mit ihm auferstanden, um – wie die Kirchenväter die Stelle kommentieren – die Glaubenswahrheit der Auferstehung des Leibes zu bezeugen. Was aber geschah, nachdem sie in Jerusalem (der Heiligen Stadt) vielen erschienen waren? Kaum vorstellbar ist, dass sie wieder zu Staub zerfielen, d.h. „erneut“ verstarben. Der hl. Thomas von Aquin zitiert in seiner „Catena Aurea“, dem durchgängigen Kommentar der vier Evangelien, den hl. Remigius von Auxerre (841–908) mit folgenden Worten:

„Ohne Zögern müssen wir glauben, dass die, welche bei der Auferstehung des Herrn von den Toten auferstanden, gleichfalls mit ihm zum Himmel auffuhren.“

Die Auferstehung des Leibes ereignet sich regulär erst am Jüngsten Tag. Bis dahin sind die Seelen der Heiligen im Himmel noch nicht mit ihren Leibern vereinigt. Die zitierte Stelle im Matthäusevangelium deutet jedoch darauf hin, dass neben der Muttergottes noch einer Reihe von anderen Heiligen das besondere Gnadenprivileg zuteil wurde, nicht nur vor dem Jüngsten Tag, sondern sogar bereits unmittelbar nach dem Tod Christi leiblich aufzuerstehen. Die Kirche hat sich nicht dazu erklärt, wer diese Gerechten im Einzelnen sind.

Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass der hl. Joseph einer von ihnen war. Denn wem auch immer von den Gerechten des Alten Bundes dieses Privileg zuteil wurde – keiner dieser Gerechten reichte an den hl. Joseph heran, der als „Licht der Patriarchen“ alle heiligen Väter vor ihm überstrahlte! Ist es vorstellbar, dass einer ganzen Reihe von Vätern ein Privileg zuteil wurde, das dem Ersten unter ihnen vorenthalten worden wäre?

In jedem Fall folgt aus der Glaubenswahrheit, dass Christus nach seinem Tod in den Limbus hinabstieg, dass er dort auch dem hl. Joseph begegnete. Da ihm unter den Vätern der Ehrenrang zukam, müsste der hl. Joseph sogar der erste gewesen sein, dem Christus begegnete.

In der eingangs zitierten Predigt vom 19. März 1622 hat der hl. Franz von Sales diese Begegnung folgendermaßen fiktiv beschrieben:

„Als unser Herr in den Limbus hinabstieg, sprach der hl. Joseph zweifellos folgendermaßen zu Ihm:

,O mein Herr, ich bitte Dich, Dich zu erinnern, dass ich, als Du vom Himmel auf die Erde kamst, Dich in mein Haus aufnahm, in meine Familie; und dass ich Dich, sobald Du geboren warst, in meine Arme aufnahm. Jetzt, wo Du in den Himmel gehst, nimm mich mit Dir. Ich habe Dich in meine Familie aufgenommen, nun nimm Du mich in Deine auf, da Du dorthin gehst. Ich habe Dich in meinen Armen getragen, nun trage Du mich in Deinen. Und als ich Sorge trug, Dich zu führen und zu unterstützen während Deines irdischen Lebens, trag Du nun Sorge für mich und führe mich zum Ewigen Leben.’“

Die dem hl. Joseph in den Mund gelegten Worte sind freilich fiktiv, doch die darin zum Ausdruck kommende Vorstellung ist sehr naheliegend, wenn man bedenkt, dass gemäß dem Matthäusevangelium einige der Väter mit Christus auferstanden sind – und sofern man bedenkt, dass es unwahrscheinlich ist, dass diese Väter nach ihrer Auferstehung dann ein zweites Mal verstorben sind und zu Staub zerfielen, dass diese also vielmehr mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden sind.

Aufs Ganze betrachtet erscheint so die „Himmelfahrt Josephs“ fast wie eine logische Konsequenz aus allem, was wir mittlerweile über den hl. Joseph wissen bzw. was wir uns über ihn erschließen können. Seine Stellung als größter Heiliger nach der Muttergottes, seine aktive Teilnahme am Geheimnis der Menschwerdung und seine drei Jahrzehnte währende, intime Nähe zu Jesus Christus lassen es fast unvermeidlich erscheinen, dass er wie die Muttergottes auch mit Leib und Seele der himmlischen Herrlichkeit teilhaftig ist.

Denken wir auch daran, dass der hl. Joseph während des Sonnenwunders von Fátima erschien, das Jesuskind auf dem Arm, um die Welt zu segnen – auch dies deutet darauf hin, dass nicht nur die Muttergottes, sondern auch der hl. Joseph mit Leib und Seele im Himmel ist.  

Zuguterletzt wollen wir noch ein Argument zumindest erwähnen, das im Zusammenhang dieser Frage fast immer angeführt wird. Vom hl. Joseph sind nämlich keine körperlichen Reliquien überliefert. Auf den ersten Blick mag das als überzeugendes Indiz für eine Himmelfahrt Josephs erscheinen – denn in ähnlicher Weise wird der Mangel von körperlichen Reliquien der Muttergottes oft als empirischer Beleg für deren Himmelfahrt angeführt. Auch ist kein Grab des hl. Joseph bekannt bzw. als solches offiziell anerkannt.

Dennoch ist dies unserer Ansicht nach ein etwas schiefer Vergleich. Denn während die Muttergottes seit der Frühzeit der Kirche verehrt wurde, begann die Josephsverehrung doch erst im hohen und späten Mittelalter. Es ist daher theoretisch durchaus denkbar, dass evtl. Reliquien des hl. Joseph bzw. sein Grab während des ersten Jahrtausends schlicht verloren bzw. vergessen worden sind. Insofern hat dieses Argument für sich betrachtet keine oder nur eine sehr bedingte Beweiskraft. Als ergänzendes, kleineres Indiz, welches das Gesamtbild vervollständigt, mag man es jedoch den oben genannten Argumenten mit einigem Recht hinzufügen.

Lassen wir den hl. Bernardin von Siena zusammenfassen:

„Wir dürfen fromm glauben, aber nicht als sicher behaupten, dass der allerheiligste Sohn Gottes Jesus Seinen Ziehvater mit dem gleichen Privileg krönte, das er Seiner Mutter verliehen hatte: dass Er so, wie Er sie mit Leib und Seele glorreich in den Himmel aufnahm, am Tag Seiner Auferstehung auch Joseph mit Sich in die Herrlichkeit der Auferstehung hinaufnahm. So wie diese glorreiche Familie, Christus, die Jungfrau und Joseph, auf Erden zusammengelebt hat in den Mühen des Lebens, in Liebe und in Gnade, so regieren sie nun im Himmel in Liebe und Herrlichkeit sowohl des Leibes als auch der Seele.”


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