Ein junger Mann vermählt sich mit Maria…

„Joseph war wahrscheinlich ein junger Mann, stark, männlich, athletisch, gut aussehend, keusch und diszipliniert. Anstatt ein Mann zu sein, der nicht fähig war, zu lieben, muss er vor Liebe entflammt gewesen sein. So wie es der Gottesmutter sehr wenig Ehre machen würde, wenn sie ihr Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hätte, nachdem sie eine alte Jungfer von 50 Jahren gewesen wäre, so hätte es auch einem Joseph, der ihr Bräutigam wurde, weil er alt war, nicht viel Ehre gemacht. In jenen Tagen legten junge Mädchen wie Maria das Gelübde ab, Gott einzigartig zu lieben, ebenso wie junge Männer, von denen Joseph einer war, der so herausragend war, dass er als „gerecht“ bezeichnet wurde. Statt einer Trockenfrucht auf der Tafel des Königs, war er eher eine Blüte voller Verheißungen und Macht. Er war nicht am Abend seines Lebens, sondern am Morgen, schäumend vor Kraft und kontrollierter Leidenschaft. Maria und Joseph brachten nicht nur ihre Jungfräulichkeitsgelübde zu ihrer Vermählung mit, sondern auch zwei Herzen mit größeren Liebesströmen, als sie jemals zuvor durch eine menschliche Brust geflossen waren. Wieviel schöner erscheinen Maria und Joseph, wenn wir in ihrem Leben sehen, was man als die erste göttliche Romanze bezeichnen könnte! Kein menschliches Herz wird von der Liebe des Alten zur Jugend bewegt; aber wer ist nicht bewegt von der Liebe zweier junger Menschen? Sowohl in Maria wie auch in Joseph gab es Jugend, Schönheit und Verheißung. […] In Joseph und Maria finden wir […] zwei junge Menschen, die, bevor sie die Schönheit des einen und die stattliche Kraft des anderen kannten, bereit waren, diese Dinge für Jesus aufzugeben. Diejenigen, die sich also über die Krippe des Jesusknaben gebeugt haben, sind nicht Greis und Jugend, sondern zwei junge Menschen, welche die Weihe der Schönheit einer jungen Frau und die Ergebenheit der starken Anmut eines Mannes gelebt haben.“

~ Ehrwürdiger Diener Gottes Erzbischof Fulton Sheen (in: The World’s First Love: Mary, Mother of God)

Wir alle kennen das Bild vom hl. Joseph als einem alten Mann – von einem hl. Joseph, der mehr wie ein Großvater als wie ein Vater aussieht.

Wir kennen dieses Bild, weil es uns auf Schritt und Tritt begegnet, in Kirchen, Museen oder im Internet. In der religiösen Kunst des Mittelalters und der Renaissance und teils noch darüber hinaus wird der hl. Joseph nämlich überwiegend als gebrechlich wirkender alter Mann mit schütterem weißen Haar, weißem Bart, manchmal sogar gestützt auf einen Gehstock, dargestellt.

Wir wollen dazu beitragen, dass dieses falsche Bild ein für alle mal überwunden wird. Dieser Überwindungsprozess ist eigentlich schon lange im Gange. Denn seit Jahrhundert haben viele Heilige und Theologen zahlreiche Argumente gegen das volkstümliche Bild vom greisenhaften hl. Joseph vorgebracht (und viele Künstler haben darauf reagiert). Das Zitat von Fulton Sheen ist nur ein ausgewähltes Beispiel, dem Dutzende an die Seite zu stellen wären. Die Argumente beziehen sich wie in diesem Fall auch meist auf die Jungfräulichkeit der Ehe zwischen Joseph und Maria – wenn einer der beiden Ehepartner ein Greis gewesen wäre, der aufgrund seines hohen Alters sowieso nicht mehr zu einer echten Liebesbeziehung in der Lage gewesen wäre, dann nimmt man dieser jungfräulich-keuschen und übernatürlich fruchtbaren Ehe gleichsam „den Witz“. Weitere Argumente kreisen um all die körperlich herausfordernden Aufgaben, die der hl. Joseph als Haupt der Hl. Familie zu erfüllen hatte. Ein gebrechlicher alter Mann hätte weder durch sein Handwerk die Familie ernähren können und noch weniger mit Maria und Jesus über Nacht nach Ägypten fliehen, die Strapazen des Weges ertragen und Frau und Kind wirksam beschützen können.

Solche Argumente sind gut und schön. Dennoch wollen wir in diesem Beitrag die ganze Frage einmal gehörig gegen den Strich bürsten, indem wir fragen: Warum ist es eigentlich das Bild von einem jungen hl. Joseph, das überhaupt erst Argumente braucht, um sich rechtfertigen zu können?

Wir sind überzeugt, dass es sich bei der viel diskutierten Altersfrage des hl. Joseph nur um ein Scheinproblem handelt. Wie alle Scheinprobleme löst es sich sehr schnell, indem man es einmal aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel angeht. In diesem Fall heißt das, die Perspektive und die Beweislast zunächst umzukehren, d.h. nicht danach zu fragen, welche Argumente denn für „den jungen hl. Joseph“ sprechen, sondern welche Argumente für „den alten Joseph“ sprechen. Mit diesem Perspektivwechsel gelangt man recht schnell zu einer ebenso klaren wie überraschenden Erkenntnis: Es gibt kein einziges Argument dafür, warum der hl. Joseph ein alter Mann gewesen sein soll!

  • 1. Am Anfang steht eine trübe Quelle

Das Bild vom hl. Joseph als einem alten Mann entstammt nämlich nicht der Hl. Schrift, sondern den sogenannten „Apokryphen“, in erster Linie dem sog. „Protoevangelium des Jakobus“. Bei den Apokryphen handelt es sich um außerbiblische Texte, die zwar die Apostel als Autoren anführen, aber bereits von der frühen Kirche als Fälschungen enttarnt wurden. Zwar können diese Texte teils als religionsgeschichtlich aufschlussreiche Dokumente mündlicher Überlieferungen oder randständiger Minderheitenmeinungen dienen. Insgesamt aber erkennt auch ein unbefangener Leser in diesen Texten eine starke Neigung zu kurioser Fabulierfreude. Sie sind ein Sammelsurium teils effekthascherischer Details, die vor allem die Neugierde der frühen Christen befriedigten. Daher füllen die meisten dieser Texte die erzählerischen Lücken aus, die durch die vier Evangelien offengelassen wurden. Das betrifft vor allem die Kindheitsgeschichte Jesu und die Vorgeschichte Seiner Geburt, d.h. die Lebensgeschichte von Maria und Joseph.

Manche der Apokryphen scheinen einem weitgehend rechtgläubigen Umfeld zu entstammen und überliefern das, was man als “fromme Legende” bezeichnen mag. Dazu gehört etwa die Darstellung der Familiengeschichte Mariens; die Namen ihrer Eltern, der hll. Anna und Joachim, kennen wir nur aus den Apokryphen. Solche Texte kann man ergänzend zu den vier Evangelien lesen; ihr Inhalt ist jedoch in keiner Weise verbindlich, sondern im Gegenteil eher mit Vorsicht zu behandeln.

Andere sind deutlich häretischen Ursprungs und inhaltlich nicht mit den vier Evangelien in Einklang zu bringen.

Das Bild des greisenhaften hl. Joseph entstammt dem sogenannten „Proto-Evangelium des Jakobus“, einem erst in der Mitte des 2. Jahrhunderts entstandenen Text, den wir der ersteren Kategorie zuordnen können. Es handelt sich um keinen offen häretischen Text, sondern um einen Text, der sogar Manches überliefert, was später von der Kirche anerkannt wurde; dass die Eltern Mariens Joachim und Anna hießen, wissen wir aus dem „Proto-Evangelium des Jakobus“. Weil es sich aber um einen nicht-authentischen Text handelt, der im Gegensatz zu den vom Hl. Geist inspirierten Evangelien Irrtümer enthalten kann, müssen wir seine Inhalte eingehend prüfen, um die Spreu vom Weizen trennen zu können.

In diesem apokryphen Text wird ausführlich die Geschichte von der Vermählung Josephs mit Maria erzählt, die in den authentischen Evangelien bereits vorausgesetzt wird. Laut dieser apokryphen Erzählung soll Joseph ein alter Witwer gewesen sein, der durch ein göttliches Zeichen ausersehen wird, die jugendliche Maria, die bis dahin im Tempel gedient hat, zu ehelichen. Joseph ist darüber wenig begeistert und sträubt sich unter Verweis auf sein hohes Alter:  „Söhne habe ich bereits und bin ein alter Mann, sie aber ist ein junges Mädchen. Ich möchte den Kindern Israel nicht zum Gespött werden“. Der Hohepriester des Jerusalemer Tempels droht ihm daraufhin mit starken Worten den Zorn Gottes an: „Fürchte Dich vor dem Herrn, Deinem Gott! Und denke daran, was Gott Dathan und Abiram und Korah angetan hat, wie die Erde sich spaltete und sich verschlungen wurden wegen ihrer Widerrede! Und jetzt müsstest Du befürchten, Joseph, dass Derartiges in Deinem Hause eintritt.” Joseph, der natürlich wenig Lust hat von der Erde verschlungen zu werden, knickt daraufhin vor lauter Furcht resigniert ein und nimmt Maria mehr oder weniger freiwillig zu sich nach Hause – nicht ohne ihr noch einmal einzuschärfen, dass er eigentlich beruflich sehr beschäftigt ist und für sie keine Zeit übrig hat: „Und Joseph sprach zu Maria: ,Siehe, ich habe Dich in Empfang genommen aus dem Tempel des Herrn, und jetzt lasse ich Dich daheim in meinem Haus und gehe fort, um meine Bauten auszuführen, und dann werde ich wieder zu Dir kommen. Der Herr wird Dich in der Zwischenzeit bewahren.‘“ Diese Zwischenzeit dauert, wie wir später im 12. Kapitel erfahren, ganze sechs Monate. Ein halbes Jahr, in dem Joseph seine frisch vermählte Braut erstmal alleine zu Hause sitzen lässt?

Eine merkwürdige Geschichte! Was diese Geschichte soll, wird in den wiederholten Hinweisen auf die „Söhne“ erkennbar, die der alte Witwer Joseph aus einer früheren Ehe mitbringt.

In dieser Hinsicht gibt sich der Text damit als Teil eines Problemzusammenhangs zu erkennen, der durch die „Brüder“ Jesu entstanden ist, von denen in den vier Evangelien mehrfach die Rede ist. In den ersten Jahrhunderten des Christentums gab es verschiedene Überlegungen dazu, wer diese Geschwister waren bzw. wer sie gezeugt hat. Manche meinten, dass Jesus zwar aus Maria der Jungfrau geboren war, dass Maria und Joseph danach aber miteinander verkehrt und weitere Kinder – diesmal auf natürlichem Weg – gezeugt haben. Diese Ansicht wurde von der Kirche förmlich als Irrlehre verurteilt. Eines der ersten marianischen Dogmen ist das der „immerwährenden Jungfräulichkeit“, d.h. Maria war Jungfrau „vor, während und nach der Geburt“ (Zweites Konzil von Konstantinopel, 553 n.Chr.). Maria und Joseph lebten eine dadurch sprichwörtlich gewordene „Josephsehe“, d.h. sie lebten jungfräulich, wie Bruder und Schwester zusammen. Wer waren dann aber nun die Brüder Jesu bzw. wer waren ihre Eltern, wenn Maria und Joseph sonst keine Kinder hatten?

Wie auch die heutigen Sprachwissenschaften bestätigen, handelt es sich hierbei nur um ein vermeintliches Problem. Denn sowohl im altgriechischen, als auch im hebräischen, d.h. im biblischen Sprachgebrauch wurden alle nahen Verwandten, also auch Cousins und Cousinen als Brüder bzw. Schwestern bezeichnet (wie es bis heute in manchen Kulturkreisen der Fall ist). Die erwähnten Brüder sind demgemäß Cousins von Jesus, und zwar, wie sich aus einigen anderen Stellen erschließen lässt, Kinder von Marias Schwester, die im Johannesevangelium als “Maria Kleophae”, d.h. als Maria, Frau des Kleophas (Joh 19,25), im Matthäusevangelium als “andere Maria” (Mt 28, 1) und sowohl im Markusevangelium (15,40; 16,1), als auch im Lukasevangelium (24,10) als “Mutter des Jakobus” bezeichnet wird. Nicht nur die kirchliche Lehre und Tradition, auch die biblische Exegese hat dies stets als überzeugendste Erklärung bestätigt.

Das sog. Protoevangelium des Jakobus versucht hier offenbar einen alternativen Ausweg zu formulieren, indem zwar nicht die Rede davon ist, dass Joseph und Maria weitere Kinder zeugten, aber davon, dass Joseph als Witwer aus einer früheren Ehe Kinder mitbrachte. Ein Witwer freilich – so die Logik des Textes – muss ein alter Mann sein.

Auch wenn die Idee von Joseph als altem Witwer nicht an sich häretisch ist, so leitet sie sich doch aus einem Irrtum ab. Der Verfasser dieses Textes – oder vielleicht die dahinterstehende Gruppe/Gemeinde – meinte irrtümlicherweise, dass die Existenz von „Brüdern Jesu“ auf ein Problem weise, das man womöglich durch die Annahme einer früheren Ehe Josephs lösen könnte. Nur so kam man auf die Idee, Joseph müsse bereits ein alter Mann gewesen sein, als er sich mit Maria vermählte.

Zusammenfassend gesagt leitet sich die Vorstellung von Joseph als einem alten Mann also aus einem Problemfeld ab, für das die kirchliche Lehre eine andere und weitaus bessere Lösung aufzeigt – und diese Lösung lässt sich auch wissenschaftlich zweifelsfrei bestätigen. Nimmt man dazu, dass das „Proto-Evangelium des Jakobus“ auch gar kein authentischer Text, sondern eine Fälschung ist – d.h. nicht vom hl. Jakobus bzw. einem der Apostel stammt –, dann wird klar, dass die Vorstellung vom greisenhaften hl. Joseph einer trüben und zweifelhaften Quelle entstammt.

Das Dekretum Gelasianum, in dem Papst Gelasius im Jahr 495 n.Chr. verbindliche Richtlinien über den biblischen Kanon erlassen hat, findet bgzl. der Apokryphen noch deutlichere Worte. Das sog. Protoevangelium des Jakobus wird nämlich in jene Reihe unechter Schriften eingereiht, von denen es heißt:

„Die von Häretikern und Schismatikern verfassten Schriften werden keineswegs von der katholischen und apostolischen römischen Kirche anerkannt; von diesen haben wir es für richtig befunden, einige anzuführen, die uns überliefert und von allen Katholiken zu meiden sind [Es folgt eine Liste aller Apokryphen]. Wir bekennen, dass diese und ähnliche Schriften, welche von Häresiarchen verfasst wurden […], nicht nur zurückgewiesen, sondern aus der gesamten römischen, katholischen und apostolischen Kirche ausgestoßen und zusammen mit ihren Autoren und denen, die diesen Autoren folgen, mit dem unauflöslichen Band des Anathemas in Ewigkeit verdammt werden.“

Dass einzelne Elemente aus den Apokryphen sich dennoch erhalten und, wie im Falle des Protoevangeliums und seiner Porträtierung vom hl. Joseph als einem alten Mann, sich sogar verbreiten und lange Zeit allgemein durchsetzen konnten, liegt daran, dass sie von anderen Quellen, die nicht ausdrücklich verboten wurden, aufgenommen und durch diese weitertradiert wurden. Im Falle des hl. Joseph war das die „Legenda Aurea“, die „Goldene Legende“, ein überreicher Fundus an Heiligenlegenden, der im Mittelalter zu den weitverbreitetsten Texten nach der Bibel aufrückte. In der Legenda Aurea ist zwar nicht mehr die Rede von den Kindern Josephs aus einer früheren Ehe, aber das Bild von Joseph als altem Mann ist geblieben.

So ist es wenig verwunderlich, dass in der kirchlichen Kunst des Mittelalters die Darstellung eines hl. Joseph, der seine beste Zeit bereits hinter sich hat, als er sich mit Maria vermählt, zum Standard wird und das lange noch bleibt.

Nun könnte man meinen, dass diese weite Verbreitung die Vorstellung nachträglich legitimiert hat – denn gilt in der katholischen Kirche nicht das Traditionsprinzip? Darauf ist zu antworten, dass nicht schlichtweg alles, was in der Geschichte der Kirche überliefert wurde, im engeren Sinn als Tradition gilt. Es muss immer unterschieden werden, von wem und in welchem Kontext etwas überliefert wurde – und natürlich, aus welcher Quelle es ursprünglich stammt! Was die Quelle angeht, so können wir festhalten, dass es sich um eine trübe Quelle handelt, die von der Kirche sogar ausdrücklich verurteilt wurde.

In dieser Hinsicht ist das Protoevangelium des Jakobus tatsächlich ein eher komplizierter Fall, weil andere dort enthaltene Informationen, etwa die Familiengeschichte Mariens, von der Kirche bzw. der kirchlichen Tradition später nachträglich anerkannt wurden. Die Namen der Eltern Mariens, d.h. der hll. Joachim und Anna, wurden in den Heiligenkalender aufgenommen und werden daher zur Verehrung im öffentlichen Leben der Kirche empfohlen; sie haben eigene Festtage mit einem eigenen liturgischen Messformular. Diesen Aspekt des Protoevangeliums können wir also dem “Weizen” zurechnen.

Davon ist das Bild vom greisenhaften Joseph zu unterscheiden. Denn dieses Bild wurde überwiegend in der Kunst, weniger aber in den Schriften der Heiligen und gar nicht in einem „geheiligten“ Kontext wie der Liturgie überliefert. Die Kirche hat sich dieses Bild nie offiziell zueigen gemacht. Daher können wir diesen Aspekt des Protoevangeliums der “Spreu” zurechnen.

  • 2. „Keine kirchliche Lehre“? Korrektur eines gängigen Irrtums

Freilich haben manche geistlichen Autoren des Mittelalters versucht, dem gängigen Bild, dessen problematischen Ursprung man nicht mehr (genau) kannte, nachträglich einen Sinn abzugewinnen. So kam man auf die Idee, dass das fortgeschrittene Alter dazu angetan gewesen wäre, die Jungfräulichkeit Mariens zu „schützen“. Anders, und zwar bewusst salopp gesagt: Dass die Ehe zwischen zwischen Maria und Joseph keusch war, konnte man sich nur dadurch vorstellen, weil da „eh nichts gegangen wäre“. Das ist freilich eine wenig glaubensstarke Erklärung für die Ehe zwischen den beiden heiligsten Menschen, die jemals gelebt haben. Darum hat dieses Erklärungsmotiv den Einspruch vieler Heiliger provoziert. Das Eingangszitat von Fulton Sheen ist ein modernes Beispiel, doch bereits im Spätmittelalter finden sich ähnlich kritische Bemerkungen, die alle in Variationen das gleiche Argument vorbringen: Keuschheit ist nicht Prüderie und Tugend aus Schwäche ist gar keine Tugend.

Wir teilen diese Ansicht, möchten darauf aber nicht so sehr den Fokus richten. Denn dieses Argument setzt ja bereits voraus, dass es überhaupt nötig ist, über diese Frage in ein „Für“ und „Wider“ einzutreten. In dem Moment, wo man sich darauf einlässt, welches Alter nun am Ehesten für unsere jeweiligen Glaubensvorstellungen „attraktiv“ erscheint, hat man die eigentlich primäre Frage schon übersprungen: Ob der hl. Joseph alt oder jung war, ist eine rein objektive Faktenfrage! Als Joseph sich mit Maria vermählte, war er entweder alt oder er war jung – unabhängig davon, was uns nun besser „gefällt“. Es geht darum, wie es wirklich gewesen ist, nicht darum, wie es besser hätte sein sollen! Solche Argumente, die aufzeigen wollen, warum es stimmiger ist, sich Maria und Joseph als junges Paar vorzustellen, sind zwar gut und schön, sie sagen aber noch nichts Definitives darüber aus, ob es nun objektiv so gewesen ist oder eben nicht.

Nun gibt es Viele, die behaupten, man könne Beides gleicherweise „glauben“, weil die Kirche hierzu keine eindeutige Lehrmeinung vertritt.

Darauf ist zweierlei zu antworten:

Erstens haben wir ja bereits festgestellt, dass die Vorstellung vom greisenhaften hl. Joseph sich aus einer sehr zweifelhaften und sogar kirchlich verurteilten Quelle ableitet.

Nun mag man vielleicht einwenden, dass zwar die Quelle verurteilt wurde, nicht aber jede einzelne darin enthaltene Vorstellung auch ausdrücklich verurteilt wurde. Die dort enthaltene Familiengeschichte Mariens, v.a. die Namen ihrer Eltern Joachim und Anna wurden von der Kirche später sogar übernommen. Solange die Kirche sich also nicht eindeutig zur Frage des Alters des hl. Joseph geäußert habe, bleibe diese Frage demnach offen. Ein solcher Einwand geht jedoch nicht nur an der Sache vorbei, sondern offenbart ein sehr grundlegendes Missverständnis darüber, wie das kirchliche Lehrsystem funktioniert (vgl. dazu auch den Beitrag über „Josephs Zweifel“).

In der heutigen Zeit, in der die kirchliche Lehre sogar von vielen kirchlichen Amtsträgern infrage gestellt wird, ist es zwar sehr löblich, wenn fromme Katholiken besonders glaubenstreu sein wollen und sich in erster Linie immer daran orientieren, was die Kirche förmlich lehrt. Als Katholiken haben wir unseren Glauben schließlich an der kirchlichen Lehre auszurichten. In der Tat sind alle förmlich definierten Dogmen von jedem Katholiken bei Gefahr seines Seelenheils für wahr zu halten, das heißt, man muss den katholischen Glauben in seiner Gesamtheit annehmen, um gerettet zu werden.

Es wäre allerdings ein Missverständnis, wenn man meinen würde, dass deswegen alles, was nicht dogmatisch letztgültig definiert ist, schlechthin zur Disposition stünde. Gerade in solchen Fällen kommt es im Gegenteil darauf an, den Sachverhalt mithilfe der Vernunft zu prüfen und alle Argumente sorgsam gegeneinander abzuwägen. Am Ende dieses theologischen Reflexionsprozesses kann man zu einer Schlussfolgerung gelangen, die einen hohen Geltungsgrad besitzt und der zu widersprechen schlicht unvernünftig wäre, auch wenn sie natürlich immer noch nicht den absoluten Geltungsgrad einer geoffenbarten Glaubenswahrheit hat.

  • 3. Und doch: Die Heilige Schrift präsentiert den hl. Joseph als jungen Mann!

Wenn wir zur Klärung dieser Frage also zunächst alle aus trüben Quellen stammenden Vorstellungen abstreifen, dann verbleibt als einzige heranzuziehende Quelle die Heilige Schrift.

Freilich mag man hier gleich einwenden, dass die Evangelien, die ja insgesamt sehr wenig über den hl. Joseph berichten, nichts Eindeutiges über sein Alter aussagen. Heißt das, dass die Evangelien das Alter des hl. Joseph offenlassen? Nein! Was das heißt, ist zunächst nur, dass das Alter des hl. Joseph den Evangelisten nicht eigens erwähnenswert schien. Daraus können wir schließen, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach der damaligen Norm entsprach.

Im antiken Judentum war es üblich, dass die Braut zwischen 12 und 16 Jahren alt war. Wenn wir also Marias Alter in diesem Bereich ansetzen, dann dürfte der hl. Joseph zwischen 25 und 30 Jahren alt gewesen sein. Dass der Bräutigam ein gutes Jahrzehnt älter ist als die Braut, war während der Zeit der Antike und weit darüber hinaus die Regel (und bis in unsere Tage ist dies nicht völlig unüblich). Dieser Befund erhärtet sich, wenn man die zusätzliche Tatsache berücksichtigt, dass in jüdischer Tradition größere Altersunterschiede zwischen den Ehepartnern strengstens verpönt sind (vgl. dazu den Talmud, Traktat Yevamot über die Ehe 44a).

Kurz gesagt: Wenn das Alter des hl. Joseph außerhalb der normalen Vorstellungen von einem Bräutigam gelegen hätte, dann würde man erwarten, dass der Evangelientext dies eigens hervorhebt und ggf. erklärt. Indem er das nicht tut, scheint das Alter den Erwartungen der damaligen Zeit entsprochen zu haben.

Nun kommt aber ein noch viel konkreteres Indiz hinzu:

Im Lukasevangelium wird die Geburt Jesu in eine Parallele zur Geburt Johannes des Täufers gebracht. Bevor die Verkündigung an Maria geschildert wird, erzählt uns das Lukasevangelium von Zacharias und Elisabeth, den Eltern des hl. Johannes des Täufers. Als der Erzengel Gabriel Zacharias, dem Hohenpriester, im Tempel erscheint und die Geburt des hl. Johannes ankündigt, antwortet Zacharias mit den Worten: „Woran soll ich dies erkennen? Denn ich bin ein alter Mann, und meine Frau ist in fortgeschrittenem Alter“ (Lk 1,18). Zacharias bezeichnet sich also ausdrücklich als alten Mann (im altgriechischen Urtext πρεσβύτης/presbytēs, im lateinischen Text senex).

Wenn die Rede etwas später auf den hl. Joseph kommt, so wird dieser hingegen nur als „Mann“ bezeichnet (Lk 1,27). Im Altgriechischen heißt er „anēr“ (ἀνήρ; lateinisch vir). Als „anēr“ wird im Altgriechischen ein Mann in seinen besten Jahren bezeichnet, der als heirats- und waffenfähig galt. Es war nur eine Bezeichnung, die der Evangelist aus einer ganzen Palette von möglichen Bezeichnungen für einen erwachsenen Mann ausgewählt hat, und die hier gewählte Bezeichnung kontrastiert auffällig mit derjenigen des Zacharias.

Das Altgriechische unterscheidet nämlich sehr differenziert den jugendlichen Mann (νεανίσκος; neanískos) vom Mann (ἀνήρ; anēr), diesen vom alten Mann (πρεσβύτης; presbytēs) und diesen vom Greis (γέρων; géron). Gemäß dem jüdischen Historiker Philo von Alexandrien, der von 15/10 v.Chr. bis 40/50 n. Chr. gelebt hat, also Zeitgenosse Jesu war, entsprechen diesen Bezeichnungen folgende Altersspannen (vgl. De opificio mundi, 105):

1. Jugendlicher Mann (neanískos)21–28
2. Mann (anēr)            28–49
3. Alter Mann (presbytēs)   49–56
4. Greis (géron)    ab 56

Auch wenn das Evangelium also kein präzises Alter nennt, so können wir dieses zuverlässig eingrenzen. Die Wortwahl schließt aus, dass der hl. Joseph älter als 49 Jahre alt war. Zwar bleibt dann immer noch eine gewisse Spannweite zwischen 28 und 49 Jahren. Doch hier dürfen wir aufgrund unserer vorherigen Argumentation davon ausgehen, dass der Altersunterschied zwischen Braut und Bräutigam im Normbereich lag, d.h. dass der hl. Joseph nicht wesentlich älter als 30 Jahre alt war; anderenfalls hätte der Bibeltext aller Wahrscheinlichkeit nach darauf hingewiesen. Rein rational betrachtet kann der hl. Joseph zum Zeitpunkt der Vermählung demnach sicher nicht älter als 49 Jahre und wahrscheinlich nicht viel älter als 30 Jahre alt gewesen sein!

  • 4. Fazit

Fasst man all dies zusammen, so bedeutet das:

  1. Die Vorstellung von einem alten hl. Joseph entstammt einer kirchlich verurteilten Quelle und findet weder einen Anhaltspunkt im authentischen biblischen Text, noch kann sie ein überzeugendes theologisches Argument für sich beanspruchen. Es gibt also keinen positiven Grund dafür, diese Ansicht zu vertreten.
  2. Die Vorstellung von einem jungen hl. Joseph ist hingegen schlichtweg das, was jeder unbefangene Leser des Evangeliums natürlicherweise erwarten würde; sie wird durch die Wortwahl im Lukasevangelium (1,27) eindeutig impliziert.
  3. Zusätzlich dazu gibt es eine Reihe von Gründen, warum die Vorstellung von einem jungen hl. Joseph auch viel eher mit allen relevanten Glaubensvorstellungen „zusammenpasst“.

Daraus folgern wir: Der heilige Joseph war ein junger und starker Mann, als er sich mit Maria vermählte. Dies ist eine historische Tatsache, an der kein begründeter Zweifel bestehen kann.

Es stimmt also nicht, wenn viele Autoren schreiben, man könne als Katholik das eine oder andere glauben, nur weil es keine eindeutige kirchliche Lehrmeinung dazu gebe. Der hl. Joseph war eine historische Person, deren Alter man mit ausreichender Gewissheit aus den entsprechenden historischen Quellen (den Evangelien) mit rein rationalen Mitteln erschließen kann. Es gibt auch keine kirchliche Lehrmeinung dazu, dass Julius Caesar gelebt hat, dass es vier Jahreszeiten gibt oder dass man in Deutschland deutsch spricht, und dennoch würde doch niemand auf die Idee kommen, dass man dies vernünftigerweise anzweifeln könnte. Zugegeben, das sind stark überspitzte Vergleiche, aber wir möchten einfach nachdrücklich betonen, dass es das kirchliche Lehramt gar nicht erst braucht, um die „Frage“ nach dem Alter des hl. Joseph zu beantworten. Die Antwort ergibt sich klar aus dem textlichen Befund des Lukasevangeliums.

Nachdem wir also festgestellt haben, dass Joseph und Maria tatsächlich ein junges Paar waren und tatsächlich jungfräulich miteinander gelebt haben, können wir zuletzt wieder auf die Ausführungen von Fulton Sheen zurückkommen. Wir können diese dann nämlich nochmals mit neuen Augen lesen. Seine starken und poetischen Worte, mit denen er die Hoheit, den Adel und die Schönheit dieser Ehe beschreibt, erhalten jetzt erst ihre ganze Strahlkraft, wenn wir erkennen, dass sie etwas beschreiben, was tatsächlich so gewesen ist! Es sind dann keine Argumente mehr, warum es so am Schönsten gewesen wäre, sondern es sind Versuche, die tatsächliche Schönheit in Worte zu kleiden – jene Schönheit, die Maria und Joseph in ihrer gegenseitigen jungfräulichen Liebe und selbstlosen Hingabe ausgestrahlt haben. Dreißig Jahre lang gaben Jesus, Maria und Joseph in ihrem verborgenen Leben in Nazareth das Bild vollendeter Schönheit ab. Maria, die unbefleckt Empfangene und ganz Reine, war die heiligste und schönste Frau, die je auf Erden gelebt hat. Joseph, der in seinem gesamten Leben keine einzige Sünde begangen hat, war nicht nur der heiligste Mensch nach Maria, sondern er war zum Zeitpunkt der Vermählung auch ein junger, starker und gutaussehender Mann, der sich mit Leib und Seele seiner Berufung zum Bräutigam der jungfräulichen Gottesmutter verschrieben und so all seine natürlichen Anlagen dem Höheren gebeugt hat. Maria und Joseph waren sich der Schönheit des jeweils anderen so bewusst, wie es von zwei Menschen in der Blüte ihrer Jugend zu erwarten ist. Tag für Tag durften sie sich an der Schönheit des anderen in vollkommener Reinheit, Selbstlosigkeit und Unschuld erfreuen.

Umso mehr gewinnt ihr Beispiel an Leuchtkraft für die durch und durch hedonistisch-materialistische, übersexualisierte und verschmutzte Kultur unserer Tage. Blicken wir daher auf dieses attraktive und jungfräuliche Paar, um zu erahnen, wie schön und anziehend die Tugend der Keuschheit ist. Indem wir mit der Gnade Gottes mitarbeiten und unsere sinnlichen Leidenschaften disziplinieren, werden wir nicht langweilig und prüde, sondern erhalten nach und nach etwas von dem Glanz, der Maria und Joseph umschwebte. Mögen wir daher auf die Fürsprache der Heiligen Familie wahre Reinheit des Leibes und der Seele erlangen!

Jesus, Maria und Joseph – erleuchtet uns, helfet uns, rettet uns!


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